Gastbeitrag von Dr. Moustapha Diallo
Kolonialgeschichte ist Weltgeschichte. So selbstverständlich wie er klingt, ist der Satz nicht, wenn man den Kommentar von Samuel Misteli in der NZZ vom 16.8.24 liest: „Der Zukunftskontinent: In Europa beschäftigt man sich obsessiv mit dem Kolonialismus – in Afrika interessiert das nur Ewiggestrige“.
Bei dieser ebenso kategorischen wie überraschenden Gegenüberstellung erwartet man entsprechende Ausführungen, sucht sie aber vergeblich. Der Autor beschränkt sich auf Behauptungen: In Afrika „scheren sich nicht mehr allzu viele um den Kolonialismus.“ Worauf er diese Aussage stützt, sagt Misteli nicht. In wie vielen afrikanischen Ländern er der Frage des Umgangs mit dem Kolonialismus nachgegangen ist, verrät er ebenso wenig. Dass man sich z.B. in Senegal – und nicht nur dort – sehr wohl in der Schule und an der Universität mit dem Thema befasst, weiß er offensichtlich nicht. Und in Senegal widmet man sich verstärkt einer eigenen Geschichtsschreibung, eben weil die Darstellung der Kolonialherrschaft auf einer massiven Geschichtsfälschung beruhte. (Zur Veranschaulichung genügt der irrwitzige Satz, den der französische Kolonisator den afrikanischen Schülern eintrichterte: „Unsere Vorfahren, die Gallier.“) Die Kulturzentren und Bibliotheken in Abidjan, Accra und Dakar, die ausschließlich afrikanischen Intellektuellen gewidmet sind, materialisieren den Einsatz für die Selbstbehauptung afrikanischer Kulturen nach der jahrhundertelangen Marginalisierung. Das ist eine deutliche und langfristige Antwort auf den Kolonialismus, auch wenn sie nicht „antikolonial“ genannt werden. Die seit Jahren wachsende Bewegung Nappy (Natural and Happy), in der afrikanische Frauen die Beibehaltung der krausen Haare in ihrem natürlichen Zustand fordern und kulturelle Minderwertigkeitskomplexe bekämpfen, ist ebenfalls eine dezidierte Reaktion auf den Kolonialismus.
In Europa, wo man sich angeblich „obsessiv mit dem Kolonialismus [beschäftigt]“, spielt das Thema in den Curricula der weiterführenden Schulen keine nennenswerte Rolle. In diesem Zusammenhang wäre eher die Frage zu stellen, warum dieser weltumfassende Teil der Menschheitsgeschichte so wenig Beachtung in Europa erfährt. Dass Misteli nicht weiß, ob Afrika „mehr als jeder andere [Kontinent unter dem Kolonialismus] gelitten hat“ und der Aussage ein „vielleicht“ voranstellt, ist schon ein Beleg für seinen eigenen Bedarf an ernsthafter Auseinandersetzung mit dem Thema. Das gilt im Übrigen auch für die „Identitätskrise“, die es laut Misteli in Afrika nicht gäbe, und dies nach jahrhundertelanger Entfremdung und Unterdrückung, fortdauernder Stigmatisierung und Bevormundung.
Offenbar kennt der in Kenia lebende Misteli die Werke von Ngugi wa Thiong’o und Wole Soyinka nicht – dem bekanntesten kenianischen Schriftsteller und dem ersten schwarzafrikanischen Literaturnobelpreisträger, die sich, wie viele ihrer Kollegen, mit den Erscheinungen und Folgen des Kolonialismus auseinandersetzen. Um es mit Ngugis Worten auf den Punkt zu bringen:
„[...] der Imperialismus ist, sowohl in seinem kolonialen als auch in seinem neokolonialen Stadium, die eine Kraft, die auf alles in Afrika einwirkt – Politik, Wirtschaft, Kultur, auf absolut jeden Aspekt des menschlichen Lebens.“ (Moving the Center, 111)
Menschen in Afrika mit Bewusstsein für ihre gegenwärtige Existenz können den Kolonialismus nicht ad acta legen! Ebenso wenig können sie ihre schwarze Haut ablegen, deren Stigmatisierung der kolonialen Ideologie zu verdanken ist. Und was die gezielte Herabwürdigung des Schwarzen heute noch für Folgen hat, muss hier nicht ausgeführt werden. Dementsprechend ist es ziemlich unverfroren, geschichtsbewusste Afrikaner als „Ewiggestrige“ zu diffamieren. Wer würde in Deutschland / Europa die permanente Behandlung des Holocaust als Thema von Ewiggestrigen bezeichnen?
An der Diffamierung der drei Gründer der Sahel-Allianz wird der Eurozentrismus Mistelis deutlich, denn er nimmt in Anspruch, den Afrikanern sagen zu können, mit welchem Teil ihrer Geschichte sie sich befassen sollen und mit welchem nicht. Und dies tut er auf perfide Weise: Den Betroffenen legt er eine Meinung in den Mund, die allein seiner eigenen, ausblendenden Sicht entspringt. Der eurozentrische Blick kommt auch in der Darstellung derjenigen zum Ausdruck, die „Besseres zu tun“ haben – als über Kolonialismus nachzudenken: „Tausende afrikanische Ärztinnen und Pfleger arbeiten in Europa, weil sie dort benötigt und besser bezahlt werden.“ Den Verlust für Afrika erkennt er genauso wenig wie die Tatsache, dass diese Form der Ausbeutung kein zukunftsweisendes Modell für Afrika sein kann.
Tatsächlich interessiert sich Misteli nicht für Afrika, denn seine Botschaft richtet sich an Europa; und er weiß nicht viel über den Kontinent. Dieses Eindrucks kann man sich nicht erwehren, wenn er unter der Überschrift „koloniales Erbe“nichts von der Vormachtstellung der Kolonialsprachen erwähnt, nichts über die damit zusammenhängenden Fehlentwicklungen im Bildungssystem und auch nichts über die westlichen Konzerne und Institutionen, die die Wirtschaft in den afrikanischen Ländern dominieren. Das Versäumnis gilt besonders für die frankophonen Länder, deren Währung, der CFA-Franc, heute noch von der ehemaligen Kolonialmacht kontrolliert und sogar hergestellt wird. Unter diesen Umständen ist die Bezeichnung „Zukunftskontinent“ kaum mehr als eine Floskel.
Bei genauer Lektüre erkennt man, dass die leere Formel nur ein rhetorischer Kniff ist, um die neuere Reflexion über postkoloniale Verantwortung in Europa als rückwärtsgewandt zu diskreditieren. Zu diesem Zweck bezieht sich Misteli auf afrikanische Führungsfiguren, die sich entschieden gegen die fortdauernde Dominanz der ehemaligen Kolonialmächte wenden und nennt sie „einfallslose Juntas“: Mali, Niger und Burkina Faso. Dem Zerrbild entsprechend nennt er Senegal nicht, dessen demokratisch gewählte Führung sich genauso entschlossen für den Bruch mit den neokolonialen Strukturen einsetzt. Und ähnlich wie Misteli es mit den drei widerspenstigen Offizieren an der Spitze der genannten Länder tut, wurde der senegalesische Oppositionsführer Ousmane Sonko in der deutschen und französischen Berichtserstattung ohne jegliche Begründung als Populist und Antidemokrat verunglimpft.
Dass die Militärs in den drei genannten Ländern aufgrund des gesellschaftspolitischen Versagens der Zivilregierungen unter dem Jubel der Bevölkerungen an die Macht gekommen sind, verschweigt Misteli ebenso wie ihre Erfolge in der Bekämpfung von Korruption und Misswirtschaft sowie in der Überwindung der Rolle als Rohstofflieferanten: Das gilt z.B. für die industrielle Verarbeitung des Goldes und der Baumwolle, um den Exportwert zu steigern. Das gilt auch für die Wiederaneignung der Uran-Ressourcen in Niger, die Frankreich sich seit Jahrzehnten zu einem Spottpreis gesichert hatte: 6 € das Gramm statt mindestens 145 € auf dem Weltmarkt! Zu den konkreten Erfolgen der Juntas, die angeblich „wenig Ideen für die Zukunft ihrer Länder“ haben, zählt die Befreiung von Kidal, der Hochburg der Terroristen in Mali, innerhalb von drei Monaten, wozu die französischen Soldaten zehn Jahre nicht in der Lage waren. Schlimmer noch: Während der zehn Jahre ihrer Stationierung in Mali haben die französischen Soldaten den einheimischen Offizieren untersagt, in Kidal einzumarschieren, was schließlich zur Revolte und Machtübernahme durch die Militärs geführt hat.
Es zeugt auch von wenig Sachkunde, wenn Misteli Militärs mit intellektuell unterlegener Herrscherfigur und brutaler Repression gleichsetzt: Der bis heute erfolgreichste und beliebteste Staatschef in Afrika ist zweifellos Thomas Sankara, ein Hauptmann, der dem dominanten und vor allem damals noch arroganteren Westen die Stirn geboten und innerhalb von vier Jahren die Unabhängigkeit Burkina Fasos von ausländischer Hilfe erreicht hat. An zweiter Stelle kommt – wahrscheinlich – Jerry Rawlings, auch ein Offizier, der den Demokratisierungsprozess in Ghana vorangetrieben und die Macht an eine Zivilregierung übergeben hat. Im Bemühen, die Militärs in den drei im Westen unbeliebten Ländern in schlechtem Licht erscheinen zu lassen – während die genehmen Militärs in Tschad, Gabun etc. nicht genannt werden –, blendet Misteli die Autokraten in den Nachbarländern aus, die sich seit über 40 Jahren mit Gewalt und Vetternwirtschaft an der Macht halten, und zwar mit Hilfe der alten Kolonialmacht Frankreich. Als Beispiele seien Paul Biya in Kamerun genannt, der seit 1982 regiert, Vater und Sohn Bongo, die in Gabun über 50 Jahre geherrscht haben, oder Alassane Ouattara, der in der Elfenbeinküste als Hauptstütze französischer Politik bekannt ist und die Verfassung missachtet hat, um an der Macht zu bleiben.
Aufschlussreich ist die „Art, über Kolonialismus zu sprechen“, die Misteli empfiehlt: die Forderung nach „Reparationen für den Sklavenhandel“ vor der UN-Generalversammlung oder die Erwartung an eine vergleichsweise größere Anstrengung des Westens im Klimaschutz, da er den weitaus größten Teil der Umweltzerstörung zu verantworten hat. Demgegenüber beunruhigen Misteli Forderungen nach gesellschaftlichen Veränderungen, nach Konsequenzen aus der Erkenntnis des Unrechts in einer – im qualitativen Sinne – postkolonialen Gesellschaft. Die heutigen Generationen – und die kommenden – werden nicht tatenlos zusehen, wie globale Verantwortung verweigert wird und Ungleichheit geduldet. Die Zeiten unbekümmerter Gleichgültigkeit sind unwiederbringlich vorbei!
Angesichts der selektiven Darstellung und der haltlosen Behauptungen wird Afrika in Mistelis Kommentar zum Instrument für eine Stellungnahme gegen postkoloniales Bewusstsein degradiert. Es drängt sich die Frage auf, was die NZZ mit der Veröffentlichung eines solchen Kommentars bezweckt. Es ist ein hilfloses und schlecht getarntes Plädoyer für die Verdrängung eines weltstrukturierenden Themas. Das historisch sensibilisierte Bewusstsein unserer Gegenwart fordert weiterhin und sogar intensiver die ideologiefreie Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus, weil er heute noch das Leben der großen Mehrheit der Weltbevölkerung prägt. Historische Tatsachen lassen sich nicht wegdiskutieren. Sie aufzuarbeiten ist eine Verpflichtung für jeden verantwortungsbewussten und zukunftsgerichteten Geist.
Zu Dr. Moustapha Diallo:
Moustapha Diallo geboren in Senegal. Germanistikstudium in Dakar, Österreich, Deutschland, Frankreich. Promotion über Ingeborg Bachmann. Lehrtätigkeiten in Paderborn und Münster. Freier Publizist und Übersetzer. Veröffentlichungen über Interkulturalität, afrikanisch-europäische Beziehungen und Afrika in der deutschen Literatur. Zudem ist Moustapha Diallo Gründer des KADDU Verlages, der ausschliesslich afrikanische Bücher verlegt.
Veranstaltungshinweis (weitere demnächst):
Dieser Beitrag ist der erste Gastbeitrag der Serie «Narrative Change».
African Voices lädt afrikanische Expert*innen ein, die den eurozentrischen Blick durchbrechen und eine neue Denkweise ermöglichen.
Herzlichen Dank unseren Finanzierungspartner*innen.
African Voices hat für den ersten Gastbeitrag Dr. Moustapha Diallo um eine Auslegeordnung gebeten, um den oben zitierten Artikel zum Thema «Kolonialismus» unter die Lupe zu nehmen.
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